Glücklichsein

Warum macht es uns so glücklich - ja, doch: so richtig glücklich! -, den ganzen Tag in der Natur zu sein, oder jedenfalls an der frischen Luft? - Denn von dem, was wir auf unserer Wanderung wahrnehmen, ist ja nichts außergewöhnlich - nichts, was man nicht auch ohne monatelanges Wandern (es ist übrigens gerade sagenhafte viereinhalb Monate her, seit wir in Frankfurt losgelaufen sind) wahrnehmen könnte. Zum Beispiel den Sternenhimmel: Kann man auch sehen, wenn man sonstwo nachts auf den Balkon tritt und den Hals in den Nacken legt, sofern gegenüber nicht gerade eine Straßenlaterne steht. Dass im Mai die Kirschen und im August die Äpfel reif werden, das muss man nicht einmal wahrnehmen, sondern das weiß man einfach. Oder ein rauschender, schäumender Bergbach mit so sauberem Wasser, dass man am liebsten selber zur Forelle würde - an dem kann man sich auch vom Auto aus erfreuen, sofern man auf der Brücke anhält und hinunterschaut.

Das sind alles schöne und erbauliche Wahrnehmungen. Aber dass sie den massiven Ausstoß von Glückshormonen auslösen, dazu müssen sie - so denken wir uns jedenfalls bei unseren Fußmärschen - konzentriert, gehäuft, verdichtet vorkommen. Und das geschieht natürlich eher, wenn man sich von morgens bis abends in der Natur bewegt, und manchmal auch noch nachts, wie zum Beispiel beim Wildzelten am Lac de Gourguet, einem der zahllosen pyrenäischen Bergseen, an denen man praktisch alleine ist, selbst jetzt in der Hochsaison - jedenfalls sofern der nächste Parkplatz hinreichend weit weg ist. (Übrigens unterscheidet man, wie wir gelernt haben, in Frankreich, dem Land der Camping-Leidenschaft, zwischen "camper" und "bivouaquer", also zwischen dem im letzten Post geschilderten Familien-Treiben auf Campingplätzen, und dem Zelten in freier Natur, wobei dem letzteren nicht der Anflug des Verbotenen anhaftet wie die Wendung "wild zelten".)


Also eine Vielzahl von Wahrnehmungen in kurzer Zeit, und zusätzlich zur Dichte der Eindrücke kommt ja noch, dass man bei so einer Wanderung nicht abgelenkt ist - wir haben ja gerade nichts anderes zu tun als zu wandern - und deshalb außerordentlich aufnahmebereit ist für die Wahrnehmung der Natur. Mit anderen Worten, wir verdichten selber.

Und was das Wörtchen "wir" angeht: Ein Bekannter aus Jugendtagen fährt mit einem Mercedes-Geländewagen kreuz und quer durch Südamerika, aber seine Frau mag nicht mit. Dass wir uns beide gleichermaßen an dieser Wanderung erfreuen können, ist nochmal zusätzlich beglückend. Und natürlich auch, dass wir es können: Dass der Körper es mitmacht, und die Kreditkarte ebenfalls.

Auf Berge steigen macht übrigens besonders glücklich, was reichlich widersinnig ist. Denn unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt betrachtet bleibt man besser unten: So viel Schinderei bloß für einen Ausblick! Aber es scheint dem Menschen - wenn auch zugegebenermaßen nicht jedem Menschen - ein grundlegendes Bedürfnis zu sein, ab und zu mal auf die Gipfel zu kraxeln, schnaufend oben anzukommen, den Blick zu genießen und dabei glücklich zu sein.
Wäre es anders, wäre die Kunst um viele Meisterwerke ärmer. Nur auf die Schnelle zwei Beispiele: Richard Wagner hat eine Bergbesteigung komponiert, inklusive das Ankommen und sich Umschauen ("selige Öde auf wonniger Höh'"), und bei Leonard Cohen ist der Berg der Inbegriff des vergangenen Liebesglücks ("and you climbed up all the mountains, and you sang about the view, and everywhere you wandered love seemed to come along with you").
Wäre es anders, wären die Berge natürlich auch nicht mit Sesselliften, Ausflugsgaststätten, Serpentinenstraßen und Parkplätzen bestückt. Dass es all das gibt, darüber wollen wir ganz und gar nicht jammern. Im Gegenteil, wir freuen uns, wenn wir Familien mit dem Baby im Tragerucksack sehen, oder mit gut gelaunten Teenagern im Schlechte-Laune-Alter, oder noch ältere Herrschaften als wir mit Rucksack und Wanderstöcken. Die negativen Aspekte dieser Art des Bergtourismus ausgeklammert - er macht die Schönheit der Natur für alle zugänglich, denen dieser Zugang etwas bedeutet. Glück zum Beispiel. 


Die Schönheit der Natur: Dass die Natur nicht von sich aus schön ist, sondern erst vom Menschen als schön erklärt wurde, ist heutzutage kein besonders origineller Gedanke mehr; dazu gibt es die Industriegesellschaft, die Zivilisationskritik und die Idealisierung der Natur schon zu lange. Davor wurde sie im übrigen als feindlich und bedrohlich empfunden - ebenso eine Konstruktipn des Menschen, bloß eben eine andere - , was man in den Pyrenäen oberhalb der Baumgrenze auch heute noch ganz gut nachvollziehen kann.

Wie auch immer: Was soll man denn empfinden, wenn nicht Glück, wenn man nach sechs Stunden Aufstieg den Rucksack ins Gras fallen lässt, sich auszieht und in einem Bergsee springt, dessen Wasser so gletscherklar ist, dass man es beim Schwimmen trinkt? Wenn die Abendnebel aufziehen und den Sonnenuntergang in einen dichten und dennoch feinen Schleier hüllen? Wenn das Lagerfeuer flackert und sich der heraufgeschleppte Rotwein mit angemessener Feierlichkeit in die Riedel-Alu-Becher ergießt? Oder wenn nachts die Nebel gewichen sind und das ganze Universum in all seiner Sternenfunkeligkeit zum Bestaunen freigeben haben?

Es ist schon rätselhaft: Manche Menschen lässt so etwas einfach kalt. Die Natur ist ihnen gleichgültig, sie mobilisiert bei ihnen keine Glückshormone. Aber so ist es eben. Immerhin, etwas Rätselhaftigkeit steht dem Glück ganz gut zu Gesicht. 

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Kommentare: 5
  • #1

    gitti (Freitag, 10 August 2018 12:54)

    so schön und poetisch geschrieben!
    ihr habt wirklich grosses Glück!

  • #2

    pius (Freitag, 10 August 2018 15:37)

    wie viele nösel rotwein habt ihr schon bergauf geschleppt?
    und mit jedem schritt in solch wunderbaren landschaften wurden sie besser!
    da werde ich fast ein wenig neidisch ob so viel glückes
    gern hätten wir den wein mit euch genossen

  • #3

    Lutz (Samstag, 11 August 2018 23:00)

    ;Mann-o-mann, so ganz unbrasilianisch. War in einem schönen neuen Hotel neben der Sala Mereiles einquartiert, aber drum herum, gruselig!!!

  • #4

    Edda (Montag, 13 August 2018 09:39)

    -das ist wirklich so unglaublich schön geschrieben, mir kommen fast die Tränen dabei ,und ich freue mich so unglaublich für euch, dass ihr beide das gemeinsam genießen könnt.

  • #5

    Monika (Freitag, 17 August 2018 09:56)

    "Selige Öde
    auf sonniger Höh'!
    (In den Tann hineinsehend.)
    Was ruht dort schlummernd
    im schattigen Tann? -
    Ein Roß ist's,
    rastend in tiefem Schlaf!
    (Er betritt vollends die Höhe und schreitet langsam weiter vor; als er Brünnhilde noch aus einiger Entfernung gewahrt, hält er verwundert an.)
    Was strahlt mir dort entgegen? -
    Welch' glänzendes Stahlgeschmeide!
    Blendet mir noch
    die Lohe den Blick? -
    (Er tritt näher hinzu.)
    Helle Waffen! -
    Heb' ich sie auf?
    (Er hebt den Schild ab, und erblickt Brünnhilde's Gesicht, das jedoch der Helm noch zum großen Theile verdeckt.)
    Ha! in Waffen ein Mann: -
    wie mahnt mich wonnig sein Bild! -
    Das hehre Haupt
    drückt wohl der Helm?
    Leichter würd' ihm,
    lös't ich den Schmuck.
    (Vorsichtig löst er den Helm und hebt ihn der schlafenden vom Haupte ab: langes lockiges Haar bricht hervor. - Siegfried erschrickt.)
    Ach! - wie schön! -
    (Er bleibt in den Anblick versunken.)
    Schimmernde Wolken
    säumen in Wellen
    den hellen Himmelssee:
    leuchtender Sonne
    lachendes Bild
    strahlt durch das Wogengewölk!
    (Er lauscht dem Athem.)
    Von schwellendem Athem
    schwingt sich die Brust: -
    brech' ich die engende Brünne?
    (Er versucht es mit großer Behutsamkeit - aber vergebens.)
    Komm', mein Schwert,
    schneide das Eisen!
    (Er durchschneidet mit zarter Vorsicht die Panzerringe zu beiden Seiten der ganzen Rüstung, und hebt dann die Brünne und die Schienen ab, so daß nun Brünnhilde in einem weichen weiblichen Gewande vor ihm liegt. - Überrascht und staunend fährt er auf.)
    Das ist kein Mann! - -
    Brennender Zauber
    zückt mir in's Herz;
    feurige Angst
    faßt meine Augen:
    mir schwankt und schwindelt der Sinn! -
    Wen ruf' ich zum Heil,
    daß er mir helfe? -
    Mutter! Mutter!
    Gedenke mein'!
    (Er sinkt mit der Stirn an Brünnhilde's Busen. - Langes Schweigen. - Dann fährt er seufzend auf.)
    Wie weck' ich die Maid,
    daß sie die Augen mir öff'ne? -
    Das Auge mir öff'ne?
    Blende mich auch noch der Blick?
    Wagt' es mein Trotz?
    Ertrüg' ich das Licht? -
    Mir schwebt und schwankt
    und schwirrt es umher;
    sehrendes Sengen
    zehrt meine Sinne:
    am zagenden Herzen
    zittert die Hand!
    Wie ist mir Feigem? -
    Ist es das Fürchten? -
    O Mutter! Mutter!
    Dein muthiges Kind!
    Im Schlafe liegt eine Frau: -
    die hat ihn das Fürchten gelehrt!
    Wie end' ich die Furcht?
    Wie fass' ich Muth? -
    Daß ich selbst erwache,
    muß die Maid ich erwecken! - -
    Süß erbebt mir
    ihr blühender Mund:
    wie mild erzitternd
    mich zagen er reizt! -
    Ach, dieses Athems
    wonnig warmes Gedüft'! -
    Erwache! erwache!
    heiliges Weib! - -
    Sie hört mich nicht. -
    So saug' ich mir Leben
    aus süßesten Lippen -
    sollt' ich auch sterbend vergeh'n!
    (Er küßt sie lange und inbrünstig. - Erschreckt fährt er dann in die Höhe: - Brünnhilde hat die Augen aufgeschlagen. - Staunend blickt er sie an. Beide verweilen eine Zeit lang in ihren gegenseitigen Anblick versunken.)