Auch Helden brauchen Retter

bei Rolf
bei Rolf


Montreal, so heißt das hübsche winzige Städtchen einen Tagesmarsch nach Carcassonne, wo wir am Vorabend des französischen Nationalfeiertages auf den örtlichen Feuerwehrball gerieten, Feuerwerk inklusive. Das WM-Finale sahen wir auf dem Marktplatz von Mirepoix, Jubeltaumel inklusive. In Mirepoix waren wir am Vortag im "Hotel do Commerce" Mittag essen, was genauso gediegen war wie es klingt. Mittagessen, das ist ein bisschen entgegen unseren Gewohnheiten, die eher zum Abendessen neigen, und dass wir ins trotzdem dort so früh am Tag den Bauch vorschlugen, das kam so: Ziemlich spät, ziemlich müde und im übrigen immer noch ziemlich gezeichnet vom Montrealer Feuerwehrball marschierten wir in Hounoux ein, einem winzigen Dorf, dessen einzige Besonderheit - wie wir später gelernt haben - darin besteht, dass man das Schluss-X mitspricht. "Wenn wir hier nichts zum Übernachten finden, wird eben wild gezeltet", gaben wir uns die Parole aus. Aber entgegen unseren Erwartungen gab es ein richtig nettes Ferienwohnungs-Studio, das auch noch frei war.
Der Besitzer heißt Rolf, stammt aus Hamburg, ist seit ewigen Zeiten in der Gegend, und so sitzen wir bald zu dritt bei einer Flasche Rosé auf der Terrasse, schauen über die friedliche Hügellandschaft in den Abendhimmel, erzählen dies und das aus unserem Leben, und als die Flasche leer ist und Rolf sich zurückzieht, eröffnet er uns, dass die Übernachtung gratis sei - er finde uns nun mal nett, und seine Pension sei sowieso so gut, dass er sie gar nicht verbrauchen könne.
Tja. Widerspruch zwecklos. Wir akzepieren seinen Vorschlag, am nächsten Tag zusammen die Kirche von Vals zu besuchen, nur unter der Bedingung, ihn zum Mittagessen einzuladen. So geschieht es, und da dabei im Hotel du Commerce auch schon Wein getrunken wird, gewinnt wiederum Rolfs Vorschlag verführerische Plausibilität, nach Hounoux zurückzufahren und noch eine Nacht zu bleiben, weil sich das Loswandern nach dem Mittagessen ja gar nicht mehr lohne.


Die Kirche von Vals übrigens ist romanisch, was in Südfrankreich ja nicht so furchtbar bemerkenswert ist. Aber sie ist über eine sich zu einer Höhle weitenden Felsspalte errichtet, durch die man sie betritt. Der Eingang ist also unten - warum diese eigenwillige Bauweise? Offenbar war das Untergeschoss eine vorchristliche Kultstätte; dann wäre der Bau der Kirche also eine archiktektonische Unterwerfungsgeste. So wie die Kathedrale von Cuzco, die auf dem Mauerwerk der Inkas errichtet wurde.

Ein paar Tage später stehen wir, wieder müde, wieder spät am Tag, vor Evelyns Haus, so wie bei Rolf, und zusätzlich grummelt noch ein Gewitter am Himmel herum. Evelyn stellt allerlei Kunsthandwerk her, ihre Lieblingsobjekte sind offenbar Sterne. Sie könne uns ihren Garten zum Zelten anbieten, aber wir könnten auch im Stockbett in ihrem Arbeitszimmer übernachten, und Abendessen und Frühstück gebe es auch.

Das Gewitter geht nieder, während wir in Evelyns Badezimmer duschen, und danach sitzen wir mit ihr und ihrem Mann in der Wohnküche, wo die beiden damit beschäftigt sind, ein Rehgeweih an einen krummen Stock zu binden und zu beraten, ob das gut aussieht - Requisite für eine Theateraufführung, in der Evelyn ein Orakel gibt. Zu unserem Erstaunen eröffnen uns die beiden, dass sie ausgehen werden, dass wir also allein sein werden zum Abendessen. Evelyn hat alles vorbereitet: Einen gewaltigen Salat, eine Art Gazpacho, Hühnerschlegel mit Bratkartoffeln, Nachtisch, und dazu natürlich Wein.

Und was kostet diese unorthodoxe Art der Gastronomie? "Donativo" ist das Schlüsselwort - also eine freiwillige Abgabe, deren Höhe ins Ermessen des Abgebenden gestellt ist. Evelyns Haus liegt am Pilgerweg nach Santiago de Compostela; das erklärt wohl das Zahlungsprinzip ebenso wie seine spanische Bezeichnung.

Sie gebe ihren Gästen ja einen gewaltigen Vertrauensvorschuss, wenn sie sie einfach alleine lasse und sich außerdem ihrer Zahlungswillkür ausliefere, fragen wir sie - geht das nicht manchmal schief? - Die Gäste seien ja zu Fuß unterwegs und könnten schon deshalb nichts abschleppen, ganz abgesehen davon, dass es bei ihr nicht viel zu klauen gebe. Und die, die das Freiwilligkeitsprinzip ausnützen? Klar, die kämen auch vor, manchmal. Idioten gebe es nun einfach mal, immer und überall.

Zum Abschied erklärt sie uns, dass wir unbedingt die Landstraße gehen sollten, weil der Wanderweg viel weiter, umständlicher und mühsamer sei. Das ist, bei aller Sympathie, ein Vorschlag, der uns zweifach ratlos macht. Erstens, weil wir nicht schnell, sondern schön wandern wollen, und zweitens, weil er zeigt, dass es Evelyn vielleicht nicht besonders auf Austausch oder Kommunikation mit ihren Gästen aus ist - kein Wanderer liebt schließlich Landstraßen. Gespräche, Fragen, andere Meinungen, das wäre ja eine Erklärung dafür, dass sie ihr Haus fremden Menschen öffnet. Aber das ist offenbar nicht ihr Anliegen. Wir haben sie als sympathisch, aber zugleich etwas rätselhaft in Erinnerung.

bei Madame Nicole
bei Madame Nicole


Im Gegensatz zu Hounoux spricht man beim Ortsnamen Boutx das x nicht wie x, sondern wie ein s. "Wie das englische Wort für Stiefel", so heiße dieser Ort in den Vorpyrenäen, sagt Madame Nicole, unsere Retterin am Abend in Boutx. Denn eine der Unterkünfte, die Google ausweist, ist ein nur wochenweise zu mietendes Ferienhaus, die zweite existiert nicht, und die dritte ist eine Art Reiterhof für Jugendliche. Dessen Chefin, eben Madame Nicole, erbarmt sich unser, sie weist uns eine Wiese zum Campen an, und sie stellt in Aussicht, dass wir zusammen mit den Jugendlichen abendessen könnten. Später lädt sie uns allerdings an ihren eigenen Tisch, zusammen mit dem Reitlehrer, einem befreundeten Handwerker und zwei Mitarbeiterinnen. Es wird jede Menge aufgefahren, das Gespräch ist zwanglos und nett. Es bleibt auch freundlich, als Nicole im Hinblick auf die Ausländer in Frankreich postuliert, wenn man einen Camembert in immer kleinere Teile auf- und verteile, bleibe am Ende zu wenig für den Besitzer des Camembert, eine Meinung, gegen die vor allem der Reitlehrer Sturm läuft. - Auch Nicole verlangt keinen Preis für Zelten, Essen, Frühstück. Was wir ihr geben wollen, findet sie zuviel; sie gibt uns zehn Euro zurück.

Und irgendwann gibt es alles gratis! Als wir am späten Nachmittag in einem Örtchen namens Saint Lary einlaufen, finden wir zwar kein Nachtquartier, dafür aber die gespannte Atmosphäre eines bevorstehenden großen Ereignisses vor. Wir campen auf einer Wiese hinter lauter Wohnmobilen, die am Wiesenrand stehen mit dem Kühler zur Straße, denn am nächsten Tag soll hier die Tour de France durchkommen. Wir steigen zum Waschen in den Fluss, benutzen die öffentliche Toilette, kriegen im ausgebuchten Hotel immerhin noch einen Tisch und ein gutes Abendessen und machen uns am Tag drauf früh auf den Weg. 


Mittags kreuzt unser Weg an einem Pass die Straße, an deren Rand Trauben von Schaulustigen warten. Wir setzen uns ein bisschen oberhalb ins Gras, weil die Radfahrer angeblich eine halbe Stunde später durchkommen sollen.
Wir kommen mit Marcel aus Heidelberg ins Gespräch, ein Radsportfreund, der seit ein paar Jahren der Tour de France voranfährt: Immer die Tagesetappe, und zwar so weit, bis er von der Polizei verscheucht wird, die die Straße für die Profis freimacht. Und wenn die Radfahrer und der ganze Pressetrubel vorbei sind und die Straße wieder freigegeben ist, fährt Marcel den Rest der Tagesetappe mit seinem Rad, das deutlich weniger wiegt als unsere Rucksäcke, dafür aber 5000 Euro kostet. So die Ferien zu verbringen finden wir genauso exotisch wie er die Idee, zu Fuß nach Lissabon zu wollen.

Dann plötzlich kündigt sich die Sponsoren-Karawane an, in die Menge der Wartenden gerät Bewegung. In hohem Tempo rast ein Propaganda-Gefährt nach dem anderen vorbei, besetzt mit jungen, hübschen Menschen, die gemäß ihrem Auftraggeber angezogen sind; als besondere Attraktion ist uns ein Mädchen im Pommes-frites-Kostüm in Erinnerung. Die Werbegeschenke fliegen wie die Karamellen an Karneval in die wartende Menge. Wir stehen zu weit entfernt, um auch nur eine Schirmmütze abzukriegen. Nur ein Papp-Rechteck, doppelt so groß wie eine Spielkarte, fliegt uns vor die Füße, etwas schwerer als Pappe, weil ein Magnetstreifen eingearbeitet ist, damit man sich das an die Eisschranktür heften kann: Reklame ausgerechnet für ein Altersheim.
Die Radfahrer warten wir nicht mehr ab.


Seit Wochen sehen wir sie am Horizont, Respekt einflößend und verlockend zugleich: Die Pyrenäen. Eigentlich wollten wir sie von Nord nach Süd überqueren, also schnell hinter uns bringen, um durch Spanien zu wandern. Aber je näher wir ihnen kommen, desto mehr Lust bekommen wir, sie nicht zu überqueren, sondern in ihnen zu wandern - also nicht von Nord nach Süd, sondern von Ost nach West zu laufen.
Auf französischer Seite verläuft der Wanderweg GR 10, den wir nun, nachdem wir auf ihm die bereits geschilderten Glückszustände erlebt haben, für den König der französischen Wanderwege halten. Wir beschließen, ihn von Bagnères de Luchon aus - Freunde des Radsports kennen dieses etwas heruntergekommene Heilbad als Etappenziel der Tour de France - nach Westen zu gehen.

Der GR 10
Der GR 10


Es ist das perfekte Wandervergnügen, zumal auch das Wetter, von einem Tag Waschküche abgesehen, perfekt ist: Gletscherglitzernde Gipfel, rauschende Wildbäche, tiefblaue Bergseen, schwarzgrüne Wälder und blumenbunte Weiden, auf denen es sich glückliche Kühe gemütlich machen. Auf den Bergen gibt genug bewirtschaftete Hütten, in den Tälern genug auf Touristen eingestellte Orte, sodass man nicht nur nicht verhungert, sondern oft sogar richtig fein speisen kann.

Am 17. August treffen wir uns mit Roxana und Axel, die aus Paris anreisen, in Eaux-Bonnes, einem weiteren Pyrenäen-Heilbad von etwas verblichenen Glanze. Bis dahin werden wir uns noch in den Bergen herumtreiben.

Wir beschließen diesen Bericht, indem wir Anja zitieren: "Die Pyrenäen, das ist einfach der Höhepunkt unserer Wanderung bisher".

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Kommentare: 3
  • #1

    Monika (Freitag, 17 August 2018 10:18)

    "Mein Held, mein Retter! Nimm mich hin!
    Dir geb' ich alles was ich bin!"

  • #2

    Verena (Freitag, 17 August 2018 14:02)

    Mädchen im Pommes-frites-Kostüm in Erinnerung ... � Danke fuer die Reise — abrazos

  • #3

    Klaus (Dienstag, 21 August 2018 04:56)

    Chic@s! Ich lese Eure Berichte mit steigender Freude und immer größer werdendem Neid. Ihr seid die wahren Helden. Danke für die Momente großer Lektüre-Freude.